Erfahrungsbericht Namibia
Namibia

Eine fränkisch-namibische Freundschaft

Saima ist mir sofort aufgefallen. Wenn sie sprach, konnte man sie kaum verstehen, und wenn sie lachte, hielt sie sich die Hand vor den Mund. Aus Scham, wegen ihrer Zähne, die extrem schief standen. Saima hatte eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Aber nicht nur wegen dieser Äußerlichkeiten ist sie mir aufgefallen, sondern wegen ihrer Konzentriertheit – und wegen ihrer hervorragenden Deutschkenntnisse. Schon bald gewöhnte ich mich an ihre Aussprache, und es gab keinen Zweifel, dass sie weit besser in Deutsch war als die Mitschüler der 11. Klasse der Tsumeb Secondary School. Besser sogar als alle anderen Deutschschüler Namibias. Wie ich bald erfuhr, hatte Saima im Vorjahr einen Deutsch-Wettbewerb des Goethe-Instituts in der Hauptstadt Windhoek gewonnen. Der Preis: Vier Wochen Deutschland.

Saima fiel mir auf, doch bei meiner Ankunft Anfang Januar dieses Jahres hätte ich nie für möglich gehalten, dass ich Saima im September in der Uniklinik Erlangen besuchen würde, nicht mehr als „Mam“, wie sie ihre Lehrerinnen respektvoll nannte, sondern als Freundin. Dass sie mich strahlend anlachen würde, ohne ihr Gesicht zu verbergen und stattdessen unbändiger Freude über ein kleines Geschenk freien Lauf lassen würde. Wer schreit schon vor Glück, wenn er ein paar gebrauchte Bücher wie „Krabat“ bekommt?

Ein paar gebrauchte Bücher kosten uns nicht viel, doch für ein Mädchen wie Saima und ihre Familie sind sogar gebrauchte Bücher ein Schatz, zumal deutschsprachige. Die Eltern leben mit den sieben Kindern in einer Lehmhütte in der Oshikoto-Region im Norden des Landes, hüten Ziegen und Kühe, und leben ansonsten von den umgerechnet 350 Euro, die der Vater von seiner Arbeit in einer Kupfermine monatlich nach Hause bringt. Und nicht nur finanzielle Sorgen lasten auf der Familie: Einer von Saimas Brüdern hat ebenfalls eine sogenannte Hasenscharte, er kann gar nicht sprechen. Er hatte noch Glück: Viele Kinder in Afrika sterben in den ersten Tagen nach der Geburt, weil sie wegen einer Gaumen-Kiefer-Spalte nicht saugen können. Saimas Mutter aber kannte die lebensrettende Technik: Beim Stillen dem Baby die Nase zuhalten. Saima hatte wiederum im Verhältnis zu ihrem Bruder Glück: Sie wurde im Rahmen eines südafrikanischen Hilfsprojekts namens „Operation Smile“ schon früh operiert, wenn auch mit geringem Erfolg.

Erfahrungsbericht Namibia
Foto: Markus Fischer

Ihr Vater tut alles, um ihr und den Geschwistern Bildung zu ermöglichen. In einer Township von Tsumeb hat er eine Location gemietet, von dort aus kann er bequem die Mine erreichen, und Saima die Schule. Einmal im Monat erlauben sie sich ein Homeweekend. Von ihrem eigentlichen Zuhause aus könnte Saima den täglichen Schulweg nicht bewältigen. Ihre ältere Schwester hat es auf diese Art bis an die Universität geschafft. Auch Saima erwies sich als unglaubliches Talent. Sie beherrscht fünf Sprachen: Neben ihrer Muttersprache Oshivambo die offizielle Landessprache Englisch, Deutsch, Afrikaans und die extrem schwer zu erlernende Klicklaut-Sprache Damara.

Weder ihr Talent noch ich hätten bewirken können, dass sie nun in Deutschland operiert wurde. Das war Dr. Dieter Poschardt von der Uni Erlangen-Nürnberg zu verdanken, der für den BLLV die Auslandspraktika in Namibia ins Leben gerufen hat und regelmäßig das Land bereist. Anfang Juni statte er mir unangekündigt einen Unterrichtbesuch ab – und es ging ihm wie mir: Er wurde sofort auf Saima aufmerksam. Er verstand kein Wort von dem, was sie auf Deutsch sagte. Doch als ich erzählte, was ich inzwischen wusste, stand für ihn fest: Diesem Mädchen muss geholfen werden.

Er setzte alles daran, dass Saima ihren Deutschlandbesuch als Gast des Auswärtigen Amts verlängern könnte, um in Erlangen operiert zu werden. Die behandelnden Ärzte versprachen, umsonst zu arbeiten, die Stiftung „Ein Herz für Kinder“ sagte zu, sämtliche Krankenhauskosten zu übernehmen, die Nachbehandlung in Namibia wollte ein deutscher Kieferorthopäde besorgen, ebenfalls kostenlos. Ein Termin im Anschluss an die einmonatige Reise durch Deutschland war bald gefunden, alles schien perfekt. Doch drei Tage vor dem Abflug der Schock: Pass und Visum waren verschwunden – der Brief mit sämtlichen Reisedokumenten in die deutsche Botschaft in der Hauptstadt kam nicht an.

Statt zu resignieren, lief Saima zur Behörde, erklärte, weinte, wich nicht von der Stelle – und kam nach einer Stunde mit einem neuen Ausweis heraus. Und so kam es wirklich dazu, dass ich Saima nach ihrer Einladungsreise wiedertraf, in Erlangen, am Tag nach der Operation. Man hatte Knochensubstanz aus ihrer Hüfte verpflanzt und trotzdem litt sie noch nicht unter den üblichen Folgeschmerzen, sie war erstaunlich aufgedreht. Als ich ihr die Bücher gab, verwandelte sich die zurückhaltend respektvolle, Uniform tragende Schülerin in eine jubelnde Göre.

Allerdings nannte sie mich  immer noch „Mam“, das konnte ich ihr einfach nicht abgewöhnen. Ich werde nie vergessen, wie sie mich auf dem Krankenbett anstrahlte und sagte: „Mam, stell dir vor, was ich gesehen habe: die Grünen!“ Diesmal war es nicht wegen der Aussprache, dass ich sie nicht verstand. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich herausfand, was sie mit „die Grünen“ meinte: die Partei „Bündnis 90/Die Grünen“. Auf die war sie auf ihrer Reise in einem Museum für Zeitgeschichte gestoßen und erinnerte sich an ein Kapitel aus einem Schulbuch zur Wiedervereinigung, in dem von dieser Partei die Rede gewesen war. Und noch etwas musste sie mir von ihrer Deutschlandreise berichten: Eine Freundin hatte unterwegs ihre EC-Karte verloren und kein Geld mehr. Saima hatte noch 100 Euro. Sie schenkte der Gefährtin 55 Euro.

Noch immer schreiben wir uns über Facebook. Indirekt allerdings, denn Computer und Internetzugang hat Saima nicht. Ich maile an ihre Schwester, die telefoniert meine Botschaft durch und schreibt mir, was Saima geantwortet hat. Ich hänge mit ganzem Herzen an Namibia und besonders an ihr. Im nächsten Sommer will ich wieder hin. Für Saima wiederum steht fest, dass wir uns irgendwann in Deutschland wiedersehen. Im Herbst 2013 wird sie ihr „Matrik“, das Abitur, ablegen, dann will sie studieren. Medizin. In Erlangen.

Zur Autorin: Johanna Schedlbauer hat Chemie und Geographie für das Lehramt Gymnasium studiert. Mittlerweile ist sie als aktive Lehrkraft tätig.

Mit dem Namibia School Project bietet der BLLV Lehramtsstudierenden die Möglichkeit, Praxiserfahrungen im Ausland zu sammeln. Mehr Informationen dazu findest Du auf der Website der Studierenden im BLLV.