Lettland,  Rūjiena

Die (angebliche) Heimat des Bösen

Tag 28 von 45 fliegt im Eiltempo an mir vorbei. Ich kann kaum glauben, dass ich in zweieinhalb Wochen schon wieder in meinem Zimmer in Deutschland sitzen werde und alles, was von meinem Auslandspraktikum bleiben wird, die Erinnerung daran sein soll.

Doch anstatt an die Zukunft zu denken, will ich lieber bis es soweit ist den Moment genießen und alle Erfahrungen mitnehmen, die ich machen kann. Denn es gibt so viel Neues zu lernen und mehr als tausend interessante Plätze zu erkunden. Und damit ich während meines Auslandspraktikums so viel wie nur irgendwie möglich von diesem Land sehe, reise ich sehr viel und verbringe gefühlt mehr Zeit im Bus und in mir völlig fremden Städten als in meiner WG in Rūjiena.

Dieses Wochenende zum Beispiel fuhren die Lehrer mit mir zusammen auf eine Exkursion ans andere Ende von Lettland, genauer gesagt nach Daugavpils, der zweitgrößten Stadt des Landes. Sie liegt im Südosten des Landes am Fluss Daugava, der mitten durch die Stadt fließt und diese in zwei Hälften teilt.

Ein bisschen erinnerte mich Daugavpils an Rezekne, denn die Häuser in den beiden Städten sehen sehr ähnlich aus und wirken alles andere als lettisch. Doch das ist kein Wunder, denn Daugavpils und Rezekne sind nicht weit voneinander entfernt und die Bevölkerung besteht bedingt durch die Nähe zur russischen Grenze und der langen Fremdherrschaft Lettlands aus sehr vielen Russen, viel mehr als in irgendeinem anderen Teil des Landes.

Aber wir besichtigten während unsrer Exkursion nicht nur die Stadt, sondern auch das einzige Brotmuseum im ganzen Land.

Dort wurde uns jedoch nicht etwa der Vorgang des Brotbackens erklärt, sondern vielmehr die Bedeutsamkeit des Brotes für die Menschen früher und heute hervorgehoben und erklärt, welche Tischmanieren überall auf der Welt gelten. Außerdem machte uns die Besitzerin des Museums darauf aufmerksam wie wichtig es ist, das Essen zu schätzen und die Nahrung bewusst wahrzunehmen. Dabei spiele das Brot eine wichtige Rolle, da ein Tisch erst dann reichhaltig gedeckt ist, wenn auch Brot darauf zu finden ist. Um diese Einstellung wirklich verstehen zu können, wurden wir nach diesem Vortrag an einen üppig gedeckten Tisch geführt und gebeten, die dargebotenen Speisen bewusst wahrzunehmen und zu genießen.

Das war wirklich eine besondere Erfahrung, denn es gab traditionelles, lettisches Essen, wie Brot mit eingebackenen Speck, typische Gemüsesuppen, selbst eingelegte Gurken und eine sehr üppige Nachspeise, die wir wie es hier üblich ist mit den Fingern aßen – obwohl sich danach die Hände anfühlten, als hätte man mit einem äußerst aggressiven Kleber gearbeitet und der Mund vor Fett glänzte. Über die Kalorien sollte man beim Genuss dieses Desserts also lieber nicht so genau nachdenken…

Danach ging es weiter zu einem ganz besonderen Ort: Zum Teufelssee, der lettisch Velnezers (Čertoks) genannt wird. Hunderte, teilweise sehr widersprüchliche Gerüchte kursieren um diesen ungewöhnlich tiefen, kleinen See, der die Farbe von dunklen Gewitterwolken hat. Er liegt gut versteckt mitten im Wald und wird nur von jeden gefunden, die ihn kennen und wissen, wo sie suchen müssen.

Abergläubige Menschen halten sich von diesem Ort lieber fern, da sie hier die Heimat des Bösen vermuten. Denn in diesem See scheint es keine Lebewesen zu geben, außerdem fließt keine Quelle oder Fluss in oder aus den See und zu nie hat sich ein Volk in der Nähe von diesem Ort angesiedelt. Abenteuerlustige Menschen wiederum lassen es sich im Sommer nicht nehmen, in diesem Stück unberührter Natur baden zu gehen – trotz der ausdrücklichen Warnung davor aufgrund der Tiefe des Sees (stolze 17 Meter). Denn Gerüchten zufolge reicht ein Bad in diesem See aus, um für immer gesund zu bleiben und den Männern Stärke und Erfolg bei der Werbung um eine Frau zu bescheren. Klar, dass bei solchen Versprechungen der eine oder andere die Gefahr auf die leichte Schulter nimmt…

Bestimmt wirkt der Teufelssee im Sommer, wenn die Blumen blühen und sich die Sonne im tiefblauen Wasser spiegelt, noch eindrucksvoller, doch auch jetzt im Winter, wenn der Schnee den Wald weiß färbt, hat er eine ganz besondere Wirkung auf mich gehabt.

Diese Atmosphäre sollte man sich meiner Meinung nach nicht entgehen lassen, wenn man in Lettland ist.